Sonntag, 30. März 2014

SEVERIN, EIN FALLBEISPIEL


Systemische Arbeit in der Psychomotoriktherapie


Severin (Name geändert) besucht zurzeit die 3. Primarklasse und ist gut integriert. Das war nicht immer so. Trotz guter Intelligenz waren seine Leistungen im Kindergarten und in der ersten Primarklasse mangelhaft. Im sozialen Verhalten auffällig störte er seine Kollegen zusätzlich mit seiner ruhelosen Art. Das Zeichnen und Schreiben in kleinen Häuschen fiel ihm schwer und er musste einige Frustrationen auch im Rechnen einstecken, was ihm besondere Probleme bereitete. Die gestauten Aggressionen eskalierten zu Hause gegenüber seinem jüngeren Bruder und der Mutter. Die Lage spitzte sich zu, als Severin auch in der Schule zusehends aggressiv reagierte und mit der Lehrerin Machtkämpfe austrug. Die Lehrerin kommunizierte, dass es so nicht weitergehen könnte, dass Severin mit seinem Verhalten nicht mehr tragbar sei an einer öffentlichen Schule.

Wenig später führte ich die Therapiestunden vereinzelt integriert in der Klasse durch und vor allem intensivierte ich die Elternarbeit. Wie eine Detektivin ging ich gemeinsam mit den Eltern auf Spurensuche nach positiven Beispielen, Situationen in denen die Familie gut funktioniert. Da war zum Beispiel der Vater, der arbeitsbedingt unregelmässig auch unter der Woche anwesend war und durchaus gewillt, zusätzlich Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Wichtig war meine Anerkennung gegenüber der herzlichen, emotionalen Bindung der beiden Eltern. Als die Eltern realisierten, dass ich nicht an ihren Fehlern und menschlichen Schwächen interessiert war, konnten sie in einem zweiten Schritt offen über ihre Sorgen, ihre Verzweiflung und Überforderung sprechen.

Die Mutter fand in einem nächsten Schritt die nötige Kraft, einen regelmässigen Kontakt zur Schule aufrecht zu erhalten. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass diese Vernetzung, diese Allianz mit den Eltern Severin den nötigen Rückhalt gegeben hat. Die Lehrerin war bereit, auch schwierige Situationen durchzustehen und fühlte sich unterstützt durch die Mutter. Die vermehrte Aufgabenteilung der Eltern bezüglich der Betreuung von Severin entlastete wiederum die Mutter und sie konnte dadurch in Zwischenzeiten Energie schöpfen. Und schlussendlich konnte ich in den Psychomotorik-Therapiestunden an der Frustrationstoleranz, am Orientierungssinn und an der Kraftdosierung mit Severin arbeiten. Severin fand aus seiner Regression heraus und kleine Entwicklungsschritte wurden im Alltag nach und nach sichtbar.

Elternarbeit ist lernbar

Jede handwerkliche Arbeit braucht eine Ausbildung, bestimmtes Werkzeug und eine rechte Portion Übung und Ausdauer. Mit der Elternarbeit ist es nicht anders. Ausbildungsmöglichkeiten gibt es einige und in der Supervision und Intervision können Details geschliffen werden. Meine Erfahrung ist, dass die Arbeit immer spannender und auch befriedigender wird, wenn es uns gelingt, die Eltern in unsere Arbeit einzubinden. Das bedeutet, dass wir sie in ihren Kompetenzen stärken, auf ihre Ressourcen bauen und ihnen nicht einfach die Schuld zuschieben für die Schwierigkeiten der Kinder. Das motiviert Eltern, sich auch weiterhin für das Wohl ihres Kindes einzusetzen. Und das ist relevant für die Zukunft des Kindes. Denn Eltern, die um ihre Kompetenzen wissen, die ihren Kindern Grenzen und Strukturen bieten, die Gefühle verbalisieren und sich auch Fehler eingestehen können, werden mit ihren Kindern auch weitere schwierige Situationen durchstehen. Oder sie werden sich wenn nötig auch Hilfe holen, haben sie dies doch bereits einmal positiv erlebt.

Elternarbeit stärkt die ganze Familie

Eine geglückte Elternarbeit macht die Psychomotorik-Therapie nachhaltig und effizient. Niemand wird bestreiten, dass das Verhalten der Eltern einen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat. Und diese Tatsache macht es nötig, dass wir uns aktiv um eine Zusammenarbeit mit den Eltern bemühen. Dazu muss ich als Fachfrau eine ganzheitliche Sichtweise entwickeln, mehrere Lösungswege für ein Problem erkennen und vor allem muss ich mir bewusst sein: Meine Vorstellungen, was die Eltern Gutes tun könnten für ihr Kind ist nicht relevant. Meine Phantasien, was die Eltern in ihrem Verhalten gegenüber dem Kind verändern sollten, sind wenig hilfreich. Entscheidend ist, dass ich die Eltern in ihren eigenen, persönlichen Kompetenzen erkenne, dass ich mich für ihre Sichtweisen und Ressourcen interessiere und gleichzeitig den Mut finde, auch schwierige Situationen anzusprechen. Auf diese Weise ist die Chance gross, dass wir nicht lediglich das Kind, sondern auch die Eltern in Bewegung bringen – zugunsten der ganzen Familie.